IIIDie Klage Jugoslawiens gegen zehn NATO-Staaten vor dem Internationalen Gerichtshof
 
  Wortprotokoll der öffentlichen Sitzung des IGH in Den Haag am 10. Mai 1999 in der Sache "Legalität des Einsatzes von Gewalt"

(Auszüge)

Am 29. April 1999 reichte die Bundesrepublik Jugoslawien beim Internationalen
Gerichtshof (IGH) in Den Haag Klage gegen zehn NATO-Mitgliedsstaaten (Belgien,
Deutschland, Frankreich, Großbritannen, Italien, Kanada, die Niederlande, Portugal,
Spanien und die USA) ein. Nicht beklagt werden dagegen die NATO-Staaten
Dänemark, Griechenland, Island, Luxemburg, Norwegen, Polen, Tschechien, Türkei
und Ungarn. Der Antrag wurde am 10. Mai 1999 erstmals mündlich verhandelt. Die
Anklagepunkte der zehn Einzelverfahren beziehen sich in erster Linie auf Verstöße
gegen völkerrechtliche Grundsätze wie das Gewaltverbot, das Interventionsverbot
sowie die Mißachtung des Souveränitätsprinzips. Jugoslawien fordert den IGH auf zu
erklären, daß die Anwendung von Gewalt sofort einzustellen und für den entstandenen
Schaden Ersatz zu leisten sei. Die Verbindlichkeit eines etwaigen Spruches des IGH ist
unklar, da sich die verschiedenen Parteien der Haager Gerichtsbarkeit mit
unterschiedlicher Wirkung unterworfen haben. Jugoslawien selbst hat erklärt, sich
einem Urteil hinsichtlich derjenigen Staaten zu beugen, die einen IGH-Spruch ebenfalls
anerkennen werden.

Wir dokumentieren im folgenden in eigener Übersetzung aus dem unkorrigierten
Wortprotokoll
http://www.icj-cij.org/icjwww/idocket/iyall/iyall_cr/iyall_icr9914_19990510.html  den
Wortlaut der jugoslawischen Forderungen und die Stellungnahmen zweier international
renommierter westlicher Rechtswissenschaftler zur Begründung der Klage. Professor
Ian Brownlie (Oxford) konzentriert sich auf Fragen der "humanitären Intervention".
Professor Paul de Waart von der Freien Universität Amsterdam setzt sich detailliert
mit dem Charakter des Rambouillet-Abkommens und seines Annex B auseinander. (Vgl.
die Dokumentation des Vertragstexts in "Blätter", 7/1999. – Prof. Gerhard Stuby hat
übrigens in der FAZ vom 29.4.1999 klargestellt, warum der Verweis auf z.T. identische
Formulierungen im Abkommen von Dayton dem Annex B von Rambouillet nichts von
seiner Brisanz nimmt: Die Rechte, die Anhang B zu Annex 1 A Ziffer 9 in "Dayton" dem
NATO-Personal "innerhalb der Republik Bosnien und Hercegowina" einräumt,
beansprucht die ansonsten gleichlautende Ziffer 8 des Annex B zu Kapitel 7 von
"Rambouillet" nicht etwa analog für das "Vertragsgebiet" Kosovo, sondern für das
gesamte Territorium der Bundesrepublik Jugoslawien ("throughout the FRY"). –
D.Red.
 
 

Forderungen der Bundesrepublik Jugoslawien
(Wortlaut)
 

Die Regierung der Bundesrepublik Jugoslawien beantragt, der Internationale Gerichtshof
möge folgendes feststellen und erklären:

Durch die Teilnahme an der Bombardierung des Territoriums der Bundesrepublik
Jugoslawien ist die Beklagte [neutrale Bezeichnung der je konkret beklagten Seite – Belgien,
Kanada, Frankreich usw. – durch das Gericht – D. Red.] gegen die Bundesrepublik
Jugoslawien tätig geworden in Bruch ihrer Verpflichtung, keine Gewalt gegen einen anderen
Staat anzuwenden;

durch die Teilnahme an der Ausbildung, Bewaffnung, Finanzierung, Ausrüstung und
Versorgung terroristischer Gruppen, d.h. der sog. "Kosovo Befreiungsarmee", ist die
Beklagte gegen die Bundesrepublik Jugoslawien tätig geworden in Bruch ihrer Verpflichtung,
sich nicht in die Angelegenheiten eines anderen Staates einzumischen;

durch die Teilnahme an Angriffen auf zivile Ziele ist die Beklagte gegen die Bundesrepublik
Jugoslawien tätig geworden in Bruch ihrer Verpflichtung, die Zivilbevölkerung, Zivilisten und
zivile Objekte zu verschonen;

durch die Teilnahme an der Zerstörung oder Beschädigung von Klöstern, Kulturdenkmälern,
ist die Beklagte gegen die Bundesrepublik Jugoslawien tätig geworden in Bruch ihrer
Verpflichtung, keine feindseligen Akte zu begehen, die sich gegen historische Denkmäler,
Kunstwerke oder Kultstätten richten, welche das kulturelle oder geistige Erbe von Völkern
bilden;

durch die Teilnahme am Einsatz von Splitterbomben ist die Beklagte gegen die
Bundesrepublik Jugoslawien tätig geworden in Bruch ihrer Verpflichtung, keine verbotenen
Waffen einzusetzen, d.h. Waffen, die dazu bestimmt sind, unnötiges Leiden zu verursachen;

durch die Teilnahme am Bombardement von Ölraffinerien und Chemiefabriken ist die
Beklagte gegen die Bundesrepublik Jugoslawien tätig geworden in Bruch ihrer Verpflichtung,
keinen relevanten Umweltschaden zu verursachen;

durch die Teilnahme am Einsatz von Waffen, die abgereichertes Uran enthalten, ist die
Beklagte gegen die Bundesrepublik Jugoslawien tätig geworden in Bruch ihrer Verpflichtung,
keine verbotenen Waffen einzusetzen und keine weitreichenden Gesundheits- und
Umweltschäden zu verursachen;

durch die Teilnahme an der Tötung von Zivilisten und der Zerstörung von Betrieben,
Kommunikationsmitteln, Gesundheits- und Kultureinrichtungen ist die Beklagte gegen die
Bundesrepublik Jugoslawien tätig geworden in Bruch ihrer Verpflichtung, das Recht auf
Leben, das Recht auf Arbeit, das Recht auf Information, das Recht auf
Gesundheitsversorgung ebenso wie andere elementare Menschenrechte zu respektieren;

durch die Teilnahme an der Zerstörung von Brücken über internationale Flüsse ist die
Beklagte gegen die Bundesrepublik Jugoslawien tätig geworden in Bruch ihrer Verpflichtung,
die Freiheit der Schiffahrt auf internationalen Flüssen zu respektieren;

durch die Teilnahme an den oben aufgeführten Aktivitäten und insbesondere durch die
Verursachung enormer Umweltschäden und durch den Einsatz von abgereichertem Uran ist
die Beklagte gegen die Bundesrepublik Jugoslawien tätig geworden in Bruch ihrer
Verpflichtung, eine nationale Gruppe nicht absichtlich Lebensbedingungen auszusetzen, die
darauf abzielen, ihre völlige oder teilweise physische Zerstörung herbeizuführen;

die Beklagte ist verantwortlich für die Verletzung der angeführten internationalen
Verpflichtungen;

die Beklagte ist verpflichtet, die Verletzung der angeführten Verpflichtungen gegenüber der
Bundesrepublik Jugoslawien unverzüglich einzustellen;

die Beklagte ist verpflichtet, für den der Bundesrepublik Jugoslawien und ihren Bürgern und
juristischen Personen zugefügten Schaden Entschädigung zu leisten.
 
 

Unter Berufung auf Artikel 73 der Gerichtsordnung beantragt Jugoslawien beim IGH
darüberhinaus, gegen jedes der beklagten Länder Vorläufige Maßnahmen zu
verkünden: "Die Beklagte soll unverzüglich ihre Gewaltanwendung einstellen und von
jedem Akt der Androhung oder der Anwendung von Gewalt gegen die Bundesrepublik
Jugoslawien Abstand nehmen." Andernfalls seien "... neuerliche Verluste von
Menschenleben, weiterer physischer und psychischer Schaden auf Seiten der
Bevölkerung der Bundesrepublik Jugoslawien, weitere Zerstörung ziviler Ziele, schwere
Fälle von Umweltverschmutzung und weitere physische Zerstörung des jugoslawischen
Volkes" die Folge. – D.Red.
 
 
 

Stellungnahme von Ian Brownlie, Professor für
Völkerrecht an der Universität Oxford (Wortlaut)
 

Herr Präsident, verehrte Mitglieder des Gerichts, ich habe die Ehre, die Bundesrepublik
Jugoslawien zu vertreten. Meine Aufgabe in der ersten Runde ist es, die Rechtsfragen zu
untersuchen, die den Einsatz von Gewalt durch die beklagten Staaten berühren.

     I. Feststellungen

Zunächst möchte ich eine Reihe von Feststellungen treffen.

Erstens: Der Angriff auf das Territorium von Jugoslawien impliziert einen fortgesetzten Bruch
des Artikels 2, Absatz 4 der Charta der Vereinten Nationen.

Zweitens: Der Angriff kann nicht als individuelle oder kollektive Selbstverteidigung
gerechtfertigt werden und ist durch keinerlei Sicherheitsratsresolution autorisiert.

Drittens: Die humanitäre Intervention, die die beklagten Staaten als Rechtfertigung verspätet
nachschieben, findet im Völkerrecht keinerlei Bestätigung.

Viertens: Die Berufung auf eine humanitäre Intervention wird – in jedem Falle – entkräftet
durch die ungesetzlichen Umstände des Luftbombardements, und die von den betroffenen
Staaten eingesetzten Mittel sind extrem unverhältnismäßig gegenüber den erklärten Zielen der
Aktion.

Fünftens: Die wenigen Befürworter der humanitären Intervention geben dieser Doktrin ein
Profil, das sich von dieser Bombenkampagne vollständig unterscheidet.

Sechstens: Die Kommandostruktur der NATO ist eine Einrichtung der beklagten Staaten, die
in deren Auftrag handelt.

Soweit meine Feststellungen.

     II. Artikel 2, Absatz 4 der Charta der Vereinten Nationen

Der Angriff auf das Territorium von Jugoslawien stellt also einen fortgesetzten Bruch des
Artikels 2, Absatz 4 der Charta dar.

In meinem Vorbringen behandele ich das 1945 festgelegte Prinzip des Artikels 2, Absatz 4
als uneingeschränkt. Wie unter anderen Professor Virally dargelegt hat, geht aus der
Vorbereitungsarbeit der Charta eindeutig hervor, daß eine Intervention aus besonderen
Motiven dadurch ausgeschlossen wurde, daß man den Satz "gegen die territoriale Integrität
oder politische Unabhängigkeit eines Staates" einfügte. (Vgl. Cot und Pellet, La Charte des
Nations Unies, 1985, p. 114.) Soweit der Beitrag von Professor Virally.

Die nachfolgende Praxis der Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen hat zu keiner
Veränderung im allgemeinen Völkerrecht geführt. Eine solche Veränderung wäre im Prinzip
eine entscheidende Abweichung. Der entsprechende Nachweis wäre erheblich. Ein solcher
Wandel des Gewohnheitsrechts ist von keinem einzigen Mitgliedstaat der NATO behauptet,
geschweige denn bewiesen worden.

     III. Bekräftigung dieser Position

Die Position der Charta wurde 25 Jahre später, im Jahre 1970, in der Deklaration über die
Prinzipien des Völkerrechts betreffend die freundschaftlichen Beziehungen und die
Zusammenarbeit zwischen den Staaten bekräftigt. Wie der Gerichtshof bereitwillig
anerkennen wird, belegt diese Deklaration den Konsens der Staaten über die Bedeutung der
Prinzipien der Charta. Insbesondere bekräftigt die Deklaration: "Das Prinzip betreffend die
Pflicht, sich nicht in Angelegenheiten einzumischen, die in Übereinstimmung mit der Charta zur
inneren Zuständigkeit eines Staates gehören."

Im offiziellen Kommentar dieses Dokuments heißt es dann: "Kein Staat und keine
Staatengruppe hat das Recht, sich aus irgendeinem Grunde direkt oder indirekt in die inneren
und äußeren Angelegenheiten eines anderen Staates einzumischen. Folglich sind die
bewaffnete Intervention und alle anderen Formen von Einmischung oder Drohversuchen
gegen die Völkerrechtssubjektivität eines Staates oder gegen dessen politische, wirtschaftliche
und kulturelle Bestandteile völkerrechtswidrig.

Kein Staat darf wirtschaftliche, politische oder irgendwelche anderen Maßnahmen anwenden
oder deren Anwendung unterstützen, um einen anderen Staat zu zwingen, auf die Ausübung
souveräner Rechte zu verzichten, und um von ihm irgendwelche Vorteile zu erlangen.
Desgleichen darf kein Staat subversive, terroristische oder bewaffnete Aktivitäten
organisieren, finanzieren, anreizen oder dulden, die dazu bestimmt sind, gewaltsam das
Regime eines anderen Staates zu ändern sowie in die inneren Kämpfe eines anderen Staates
einzugreifen.

Die Gewaltanwendung mit dem Ziel, die Völker ihrer nationalen Identität zu berauben, ist ein
Verstoß gegen deren unveräußerliche Rechte und das Prinzip der Nichteinmischung.

Jeder Staat hat ein unveräußerliches Recht, sein politisches, wirtschaftliches, soziales und
kulturelles System ohne jedwede Form der Einmischung von seiten eines anderen Staates zu
wählen.

Keine Bestimmung der vorstehenden Paragraphen darf als Beeinträchtigung der betreffenden
Bestimmungen der Charta, die sich auf die Erhaltung des Weltfriedens und der internationalen
Sicherheit beziehen, ausgelegt werden."

Das allgemeine Rechtssystem der Charta wurde von Prof. Schwebel seinerzeit in seinen
Haager Vorlesungen bekräftigt, die er 1972 unter der Überschrift "Aggression, Intervention
und Selbstverteidigung im modernen Völkerrecht" hielt. (Receuil des Cours, Vol. II [1972],
pp. 413-497).

Die Grundprinzipien des Rechtssystems in Hinblick auf den Einsatz von Gewalt sind auch in
der Definition der Aggression bekräftigt worden, die die Generalversammlung am 14.
Dezember 1974 angenommen hat (Resolution 3314 [XXIX]). Artikel 5 dieser Definition
bestimmt: "Keine Erwägungen gleich welcher Art, ob politisch, wirtschaftlich, militärisch oder
anderer Art, dürfen als Rechtfertigung einer Aggression dienen."

     IV. Die Doktrin der humanitäre Intervention ist nirgends zuverlässig
     bestätigt

Meinem Vorbringen zufolge können die betroffenen Staaten sich nicht auf die angebliche
Doktrin der humanitären Intervention stützen. Es gibt keinen Beweis für eine solche
Entwicklung im internationalen Gewohnheitsrecht. Darüber hinaus haben offizielle Vertreter
der beklagten Staaten in Wirklichkeit versucht, sich auf Resolutionen des Sicherheitsrates und
nicht auf eine Doktrin der humanitären Intervention zu stützen. Ich beziehe mich auf die
Ausführungen des Außenministers des Vereinigten Königreiches, Mr. Robin Cook, am 19.
Oktober 1998 und auf die Parlamentsrede von Mr. Blair, dem Premierminister, am 23. März
dieses Jahres.
 

Über eine Periode von 30 Jahren hinweg gibt es keine verläßliche Autorität, die ein Prinzip
der humanitären Intervention anerkannt hätte.

Ich werde die relevanten Autoritäten in chronologischer Reihenfolge referieren.

Bei der ersten handelt es sich um Dr. Marjorie Whiteman, die den berühmten Digest of
International Law in Übereinstimmung mit der Praxis der Vereinigten Staaten herausgibt
(Vol. 12, pp. 204-215 [1971] [Tab 3]). Das ist natürlich eine offizielle Publikation des
Außenministeriums der Vereinigten Staaten.
Dr. Whiteman legt verschiedene Meinungen dar – einige dafür, einige dagegen –, aber bei ihr
findet sich keine Bestätigung dieses Prinzips durch die Regierung der Vereinigten Staaten. Das
war 1971.

Zweitens gibt es die Auffassung von Prof. Schwebel, die er seinerzeit in den Hague Academy
Lectures von 1972 vorgetragen hat. Bei seinem umfassenden Überblick über die
Gegenstände der Aggression und der Intervention erwähnt Mr. Schwebel nicht ein einziges
Mal die humanitäre Intervention. Das war 1972.

Drittens gibt es die Auffassung von Prof. Oscar Schachter, die in der Michigan Law Review
(Vol. 82 [1984], p. 1629) erschien. Professor Schachter schrieb, daß "Regierungen im
allgemeinen (und die meisten Juristen) ein Recht zur gewaltsamen Intervention zum Schutz der
Staatsbürger eines anderen Landes vor Grausamkeiten, die in jenem Land begangen werden,
nicht behaupten würden".

Viertens gibt es die Auffassung des britischen Außenministeriums, die im Foreign Policy
Document No. 148 formuliert ist. Der volle Wortlaut findet sich im British Year Book of
International Law, Volume 57 (1986), beginnend auf Seite 614.

Die Schlüsselpassage lautet folgendermaßen: "II.22. Tatsächlich ist das Äußerste, was
zugunsten der humanitären Intervention angeführt werden kann, daß sie sich nicht für
unzweideutig illegal erklären läßt. Um diese These zu stützen, ist es erforderlich, zu zeigen,
insbesondere durch Bezugnahme auf Artikel 1 (3) der UNO-Charta, welche die Förderung
und Ermutigung der Respektierung der Menschenrechte als eines der Ziele der Vereinten
Nationen einschließt, daß die Paragraphen 4 und 7 von Artikel 2 in Fällen flagranter
Verletzung der Menschenrechte nicht gelten. Aber die überwältigende Mehrheit in der
zeitgenössischen Rechtsmeinung wendet sich gegen die Existenz eines Rechts humanitärer
Intervention und zwar aus drei Hauptgründen: Erstens scheinen die UNO-Charta und der
Korpus des modernen Völkerrechts ein solches Recht nicht spezifisch zu enthalten; zweitens
liefert die Praxis der Staaten in den vergangenen zwei Jahrhunderten und besonders seit 1945
bestenfalls eine Handvoll echter Fälle von humanitärer Intervention, nach den meisten
Einschätzungen aber keinen einzigen; und schließlich spricht aus Gründen der Vorsicht das
Ausmaß, in dem ein solches Recht mißbraucht werden kann, entschieden gegen seine
Schaffung. Akehurst argumentiert in diesem Sinne, ‚Ansprüche seitens einiger Staaten, daß sie
berechtigt seien, zur Verhütung von Menschenrechtsverletzungen Gewalt anzuwenden,
könnten andere Staaten zögern lassen, rechtliche Verpflichtungen hinsichtlich der
Menschenrechte zu akzeptieren’. Im Kern spricht es deshalb gegen den Vorschlag, die
humanitäre Intervention zu einer Ausnahme vom Prinzip der Nichteinmischung zu machen,
daß sein zweifelhafter Nutzen durch seine Kosten in Kategorien des Respekts für das
Völkerrecht bei weitem übertroffen würden." (Fußnote ausgelassen.) (p. 619)

Ich komme nun zu der Auffassung von Professor Yoram Dinstein in seiner Monographie über
War, Aggression and Self-Defence (CUP, 1988, p. 89 [Tab 4]). Professor Dinstein
schlußfolgerte, daß "nichts in der Charta das Recht eines Staates begründet, unter dem
Vorwand, die Implementierung der Menschenrechte zu sichern, gegen einen anderen Staat
Gewalt anzuwenden." (ibid. p. 89)

Dann gibt es die Sicht von Professor Randelzhofer aus Deutschland in dem von Bruno Simma
herausgegebenen Band The Charter of the United Nations, A Commentary (OUP, 1994,
[Tab 6] pp. 123-124).

Professor Randelzhofer ist der Auffassung, daß es weder in der Charta noch im
Gewohnheitsrecht Raum für das Konzept der humanitären Intervention gibt.

Schließlich haben wir die Auffassung von Professor Bruno Simma, die er im European
Journal of International Law (Vol. 10 [1999], verfügbar im Internet) niedergeschrieben
hat. Er betrachtet den Einsatz von Gewalt für humanitäre Zwecke als inkompatibel mit der
Charta der Vereinten Nationen, wenn es keine Autorisierung durch den Sicherheitsrat gibt
(Tab 8).

Herr Präsident, diese Quellen erfassen einen Zeitraum von 30 Jahren und stellen die
wohlerwogenen Meinungen bekannter Autoritäten unterschiedlicher Nationalität dar.

     V. Die Fakten erlauben es nicht, diesen Angriff auf Jugoslawien als
     humanitäre Intervention zu qualifizieren

Herr Präsident, abgesehen von den Rechtsfragen gibt des sehr starke Gründe dafür, die
sogenannten Luftschläge als humanitäre Intervention zu disqualifizieren.

Erstens: Es gibt keinen echten humanitären Zweck. Die Aktion gegen Jugoslawien ist, wie
viele Diplomaten wissen, Bestandteil einer seit längerem geltenden geopolitischen Agenda, bei
der es nicht um die Menschenrechte geht. Als 1995 600000 Serben gewaltsam aus der
Krajina vertrieben wurden, haben die betroffenen Staaten geschwiegen.

Zweitens: Die gewählten Modalitäten disqualifizieren den humanitären Anspruch der Mission.
Das Bombardement der dicht bevölkerten Gebiete Jugoslawiens und der Einsatz
hochwirksamer Munition sowie von Anti-Personen-Waffen sind Ausdruck einer mit
humanitärer Intervention völlig unvereinbaren Politik. Darüber hinaus bringen Bombenangriffe
aus einer Höhe von 5 000 m unausweichlich Zivilisten in Gefahr, und diese Operationsweise
zielt ausschließlich darauf ab, Risiken für das kämpfende Personal zu verhüten.

Die Bevölkerung Jugoslawiens als Ganze wird unmenschlicher Behandlung und Bestrafung
aus politischen Gründen unterworfen. Bisher sind 1200 Zivilisten getötet und 4500 ernstlich
verwundet worden.

Einige Gruppen von Zivilisten – darunter Beschäftigte des Fernsehens – sind absichtlich zum
Ziel gemacht worden. Mehrfach wurde versucht, das Staatsoberhaupt Jugoslawiens zu
ermorden. Deshalb sind wir der Ansicht, daß die Modalitäten den Anspruch, aus humanitären
Gründen zu handeln, klar disqualifizieren.

Drittens: Die Wahl einer Bombenkampagne steht in keinem Verhältnis zu den erklärten Zielen
der Aktion. Auf diese Weise werden, um eine Minderheit in einer Region zu schützen, alle
anderen Gemeinschaften in Jugoslawien insgesamt dem Risiko intensiver Bombenangriffe
ausgesetzt.

Viertens: Das Muster der Zielplanung und das geographische Ausmaß der Bombardements
bezeichnen weitreichende politische Zwecke, die keinen Bezug zu humanitären Fragen haben.

     VI. Zentrale Erwägungen der internationalen öffentlichen Ordnung
     disqualifizieren das Bombardement als eine humanitäre Aktion

Herr Präsident, über diese Fakten hinaus gibt es entscheidende Aspekte der internationalen
öffentlichen Ordnung, die sowohl einzeln als auch zusammengenommen die Bombardierung
Jugoslawiens als eine humanitäre Aktion disqualifizieren.

Erstens: Wie die beklagten Staaten sehr wohl wissen, hat die sogenannte Krise ihren
Ursprung in der bewußten Schürung der inneren Unruhen im Kosovo und der anschließenden
Intervention von NATO-Staaten in den Bürgerkrieg. Diese Einmischung hält an. Unter
solchen Bedingungen können jene Staaten, die für die inneren Unruhen und die Intervention
verantwortlich sind, nicht auf humanitäre Zwecke plädieren.

In diesem Zusammenhang ist es wesentlich, daran zu erinnern, daß der Entwurf der
Völkerrechtskommission [ILC; International Law Commission der UNO – D. Red.] von
1980 über Staatsverantwortlichkeit in Artikel 33 (im materiellem Teil) vorsieht, daß: "2. Ein
Staat sich in keinem Fall auf einen Notstand berufen kann, um einen Unrechtsvorwurf
ausschließen zu können: [...] (c) falls der fragliche Staat zum Eintreten des Notstandes
beigetragen hat." (YILC, 1980, Vol. II [Part Two], pp. 34-52).

Zweitens: Die Drohungen mit dem massiven Einsatz von Gewalt reichen sieben Monate
zurück und erfolgten die ganze Zeit über in der Absicht, nicht eine echte friedliche Regelung
sondern ein diktiertes Ergebnis herbeizuführen. Die massive Luftkampagne wurde vor einiger
Zeit geplant mit dem Zweck generellen Zwangs, um Jugoslawien dazu zu nötigen,
NATO-Forderungen zu akzeptieren. Die NATO hat erstmals im Oktober vergangenen
Jahres Luftangriffe angedroht, und dies ist allgemein öffentlich bekannt.

Drittens: Es hat keinen Versuch gegeben, ein Mandat des Sicherheitsrates zu erlangen. Hohes
Gericht: Falls dies eine offenkundig humanitäre Intervention war, die die internationale
Gemeinschaft als Ganze akzeptieren konnte, warum war es dann nicht möglich, die
Autorisierung durch den Sicherheitsrat zu beantragen?

Viertens: Es gibt keinen Beweis, daß das jus cogens-Prinzip betreffend den Einsatz von
Gewalt durch irgendein anderes Prinzip des jus cogens ersetzt worden ist.

     VII. Die Verfechter der humanitären Intervention in der Literatur
     sahen ein völlig anderes Modell vor

Herr Präsident, mein nächster Punkt ist folgender. Wenn man die Ansichten der wenigen
Vertreter der humanitären Intervention studiert, wird klar, daß sie keineswegs irgend etwas
von der Art der NATO-Bombardements dichtbevölkerter Gebiete Jugoslawiens, der
Beschädigung des Gesundheitssystems, der Zerstörung der zivilen Infrastruktur, der
Anwendung verbotener Waffen und der Zerstörung von Kulturgut im großen Maßstab
vorgesehen hatten.

Schließlich ist festzustellen, daß die beklagten Staaten gemeinsam und je einzeln
verantwortlich sind für die Aktionen der militärischen Kommandostruktur der NATO, welche
meinem Vorbringen zufolge eine Einrichtung der beklagten Staaten darstellt.
 
 
 

Stellungnahme von Paul J. I. M. de Waart, Prof. em.
für Völkerrecht an der Freien Universität Amsterdam

     1. Einführende Bemerkungen

Herr Präsident, verehrte Mitglieder des Gerichts, es ist meine Aufgabe, die Rechtsfragen zu
untersuchen, die mit der Androhung des Einsatzes von Gewalt durch die betroffenen Staaten
zur Erlangung der Unterschrift der Bundesrepublik Jugoslawien (BRJ) unter den Entwurf des
Vorläufigen Abkommens für Frieden und Selbstverwaltung im Kosovo, im folgenden
Vorläufiges Abkommen genannt, verbunden sind. Diese Rechtsfragen betreffen das Recht der
Verträge, Reichweite und Inhalt des Vorläufigen Abkommens, Grundprinzipien des
Völkerrechts im Zusammenhang mit der sogenannten Zwangsdiplomatie und das
Nichtvorhandensein eines "Notstandes".

Ich werde begründen, daß die Androhung des Einsatzes von Gewalt und der folgende
Gewalteinsatz durch die beklagten Staaten nach der Weigerung Jugoslawiens zu
unterzeichnen, die Charta der Vereinten Nationen und die Wiener Konvention über das Recht
der Verträge verletzt. Selbst wenn Jugoslawien unterzeichnet hätte, wäre das Vorläufige
Abkommen gemäß geltendem Völkerrecht null und nichtig gewesen.

     2. Das Recht der Verträge

Gemäß der Wiener Konvention über das Recht der Verträge von 1969, Herr Präsident, "ist
[ein] Vertrag nichtig, wenn sein Abschluß durch Androhung oder Anwendung von Gewalt
unter Verletzung der in der Charta der Vereinten Nationen niedergelegten Grundsätze des
Völkerrechts herbeigeführt wurde." (Art. 52).

In seinem Vorwort zu Malawers Buch Imposed Treaties and International Law, erschienen
1977, stellte Professor R. R. Baxter fest: "Die bemerkenswerte Umsetzung der Wiener
Konvention über das Recht der Verträge in das Völkergewohnheitsrecht hat dem Artikel 52
unzweifelhaft einen festen Platz im allgemeinen Völkerrecht gegeben. Aber weder Artikel 2,
Absatz 4 der Charta, noch Artikel 52 der Wiener Konvention hat das Problem der
aufgezwungenen Verträge gelöst."

Malawer definierte als einen aufgezwungenen Vertrag "nicht nur einen Vertrag, der
Feindseligkeiten wie oben beschrieben beendet, sondern auch jedes beliebige internationale
Abkommen, das im Ergebnis der aggressiven Anwendung militärischer Gewalt abgeschlossen
wird" (p.9). Ihm, Malawer, zufolge sollte "Gewalt" in Artikel 52 jedenfalls als "militärische
Gewalt" interpretiert werden. (p.162). Nach Meinhard Schröder, "würde" der Wortlaut von
Artikel 52 "nicht nur ungerechtfertigte physische oder bewaffnete Gewalt einschließen,
sondern auch wirtschaftlichen und politischen Druck". (Hervorhebung P. d. W.) ("Treaties,
Validity", in R. Bernhardt, Encyclopedia of Public International Law, instalment 7 [1984],
p. 513).

Die Androhung oder Anwendung von Gewalt gegen die Bundesrepublik Jugoslawien mit dem
Ziel, sie zur Unterzeichnung des Rambouillet-Entwurfs des Kosovo-Abkommens zu zwingen,
war ungerechtfertigt, weil sie eine ernste Verletzung der in der Charta der Vereinten Nationen
verkörperten Prinzipien des Völkerrechts implizierte, besonders des Prinzips der souveränen
Gleichheit all ihrer Mitglieder, der Pflicht der Staaten, ihre internationalen Streitigkeiten
friedlich beizulegen, und ihrer Pflicht, sich nicht in Angelegenheiten einzumischen, die ihrem
Wesen nach der inneren Rechtsprechung der Staaten unterliegen.

Die gegenwärtige humanitäre Katastrophe, die weltweit tief beklagt wird, entstand im Gefolge
der unausgewogenen Interpretation und Anwendung der oben genannten Grundprinzipien des
Völkerrechts durch die Kontaktgruppe, insbesondere deren NATO-Mitglieder. Diese
Gruppe besteht, wie Sie wissen, aus den Außenministern Frankreichs, Deutschlands, Italiens,
der Russischen Föderation, des Vereinigten Königreichs und der Vereinigten Staaten.
Zugegebenermaßen anerkennen die Artikel zur Implementierung des Vorläufigen Abkommens
die territoriale Integrität und politische Unabhängigkeit der Bundesrepublik Jugoslawien. Die
NATO-Mitglieder haben jedoch den Separatismus der UCK angeheizt durch ihre einseitige
Bedrohung der Bundesrepublik Jugoslawien mit Luftangriffen für den Fall, daß sie das
Vorläufige Abkommen nicht akzeptiert. Dies geht aus dem Inhalt des Vorläufigen
Abkommens hervor. Die Kontaktgruppe für Jugoslawien hat das Vorläufige Abkommen
entworfen. Der Entwurf wurde den drei betroffenen Parteien – der Bundesrepublik
Jugoslawien, der Republik Serbien und dem Kosovo – im Februar und März 1999
sukzessive in Rambouillet und Kléber unterbreitet. Die Bundesrepublik Jugoslawien und
Serbien lehnten es ab zu unterzeichnen. Nur zwei der drei Zeugen – die Vereinigten Staaten
und die Europäische Union – unterzeichneten das Vorläufige Abkommen. Der dritte Zeuge –
die Russische Föderation – lehnte es ab, dies zu tun.

Wie schon aus der Übersicht hervorgeht, bilden die Kapitel, die sich mit der Implementierung
einer NATO-geführten militärischen Streitmacht im Kosovo beschäftigen, den harten Kern
des Vorläufigen Abkommens. Ich erörtere diesen Sachverhalt in einer Fußnote, die ich jetzt
nicht vorlesen werde.1 Der Text eines Teils des Vorläufigen Abkommens wurde aus dem
Internet heruntergeladen und als Anhang zu meiner Rede beigefügt. Appendix B des Kapitels
7 beschäftigt sich mit dem Status der Multinationalen Militärischen
Implementierungsstreitmacht (KFOR) – was wahrscheinlich Kosovo FOR bedeutet. Seinen
Schlußparagraphen zufolge sollen die Festlegungen des Annex B bis zur Vollendung der
Operation oder bis zu einer andersgearteten Übereinkunft zwischen den Seiten und der
NATO in Kraft bleiben (p. 43 des Vorläufigen Abkommens).

"Operation" bedeutet dem Entwurf zufolge "die Unterstützung, Implementierung, Vorbereitung
und Teilnahme der NATO und von NATO-Personal an der Förderung dieses Kapitels,
dessen Ziele darin bestehen, eine dauerhafte Einstellung der Feindseligkeiten zu begründen
und für die Unterstützung und Autorisierung der Kosovo Forces (KFOR) zu sorgen" (Ann. B,
para. 1 [d]; p. 41 des Vorläufigen Abkommens).

Darüber hinaus stellt das Vorläufige Abkommen fest, daß die Ziele der Verpflichtungen der
Vertragsparteien die folgenden sind:

"(b) für die Unterstützung und Autorisierung der KFOR zu sorgen und im besonderen die
KFOR zu autorisieren, die erforderlichen Schritte zu unternehmen, einschließlich der
Anwendung erforderlicher Gewalt, um die Einhaltung dieses Kapitels und den Schutz der
KFOR, der Implementierungsmission (IM) und anderer an der Implementierung dieses
Abkommens beteiligter internationaler Organisationen, Einrichtungen und
Nichtregierungsorganisationen sicherzustellen und zu einem sicheren Umfeld beizutragen;

(c) die kostenlose Benutzung aller Einrichtungen und Dienste zu gewähren, die für
Stationierung, Operationen und Unterstützung der KFOR erforderlich sind."

Die Übersicht zeigt, daß, quantitativ gesprochen, der Kern des Vorläufigen Abkommens nicht
so sehr in seinem politischen Teil – demokratische Selbstverwaltung im Kosovo – besteht,
sondern in seinem Implementierungsteil – der Stationierung von NATO-Streitkräften im
Kosovo.

Bei der ersten Konferenz in Rambouillet wurden Fortschritte erzielt. Bei der zweiten
Konferenz in Kléber bat die jugoslawische Delegation darum, an dem Einverständnis über
den politischen Teil weiterhin festzuhalten und dann über den Implementierungsteil ohne den
Druck einer ausländischen militärischen Präsenz zu diskutieren. Einige Staaten in der
Kontaktgruppe hingegen vertraten die Position, daß zuerst dem Implementierungsteil
zugestimmt werden sollte, unter Einschluß der ausländischen Militärpräsenz.

Herr Präsident, die NATO-Mitglieder übersahen, daß von keinem sich selbst
respektierenden souveränen Staat, der nicht als Agressorstaat in einem zwischenstaatlichen
Konflikt besiegt worden ist, erwartet werden kann, daß er eine ausländische
Militärstreitmacht auf seinem Territorium akzeptiert, die über ein Mandat verfügt, als stelle sie
eine Besatzungsmacht dar.

Es ist kristallklar, daß die Souveränität der Bundesrepublik Jugoslawien und die Zulassung
von NATO-Streitkräften im Kosovo Angelegenheiten sind, die unter die innerstaatliche
Rechtsprechung der Bundesrepublik Jugoslawien fallen.

Das Vorläufige Abkommen selbst erkannte dies zu Recht an, denn es stellte fest, daß:

- die internationale Gemeinschaft sich zur Souveränität und territorialen Integrität der
Bundesrepublik Jugoslawien bekennt (Vorläufiges Abkommen, pp. 1 und 4);

- die Implementierungsmission im Kosovo eine Einladung seitens der Vertragsparteien (d.h.
der Bundesrepublik Jugoslawien, Serbiens und Kosovos) erfordert (Vorläufiges Abkommen,
p. 25).

Nichtsdestotrotz sieht der Entwurf aus wie ein diktierter Friedensvertrag mit einem besiegten
Angreiferstaat, für den die Vorschriften der Wiener Konvention über das Recht der Verträge
nicht gelten (Artikel 75). Dies veranschaulicht Ziffer 8 des Appendix B des
Rambouillet-Entwurfs Über den Status des Multinationalen Militärs /
Implementierungsstreitmacht, welcher lautet: "Das NATO-Personal wird, zusammen mit
seinen Fahrzeugen, Schiffen, Flugzeugen und Ausrüstungsgegenständen, in der gesamten
Bundesrepublik Jugoslawien freien und ungehinderten Zugang genießen, unter Einschluß Ihres
Luftraums und ihrer Territorialgewässer. Dies schließt das Recht ein, beschränkt sich aber
nicht darauf, Feldlager zu errichten, zu manövrieren, sich einzuquartieren und alle Gebiete und
Einrichtungen zu nutzen, die erforderlich sind für Unterstützung, Übungen und Operationen."

Mehr noch: die Letztbefugnis zur Interpretation von Kapitel 2 des Vorläufigen Abkommens –
der Polizei und der öffentlichen Sicherheit gewidmet – liegt beim Chef der
Implementierungsmission (CIM) der OSZE; die Letztbefugnis zur Interpretation von Kapitel 7
– der Implementierung II gewidmet – liegt beim KFOR-Kommandeur, dessen Bestimmungen
alle Vertragsparteien und Personen binden (Entwurf des Abkommens, Kapitel 7, Artikel XV;
siehe p. 38 des Vorläufigen Abkommens).

In summa hat das Vorläufige Abkommen die Bundesrepublik Jugoslawien in einen illegalen
Würgegriff genommen.
 
 

     4. *) Grundprinzipien des Völkerrechts stehen auf dem Spiel

     Das Vorläufige Abkommen warf Schlüsselfragen auf in Hinblick auf das Verhältnis
     zwischen einer Reihe von Grundprinzipien des Völkerrechts, wie z.B.

- Souveränität, territoriale Integrität und politische Unabhängigkeit von Staaten;

- die Anwendung von Gewalt im Kontext humanitärer Interventionen durch Staaten unter dem
Dach einer Vertragsorganisation, wie vor der Pause von Professor Brownlie erörtert.

Der Sicherheitsrat hat, unter Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen handelnd, die
Bundesrepublik Jugoslawien und die kosovo-albanische Führung aufgerufen, eine politische
Lösung zu erreichen (Resolution 1160 [1998] vom 31. März 1998 und 1199 [1998] vom 23.
September 1998). Er begrüßte das Abkommen vom 16. Oktober 1998 zwischen der
Bundesrepublik Jugoslawien und der OSZE hinsichtlich der Einrichtung einer
OSZE-Verifizierungsmission im Kosovo (Resolution 1203 [1998] vom 24. Oktober 1998).
Auf diese Weise verlangte er [der Sicherheitsrat – D. Red.] unverzügliches Handeln der
Bundesrepublik Jugoslawien und der kosovo-albanischen Führung, um mit internationalen
Anstrengungen zur Verbesserung der humanitären Situation und zur Abwendung der
drohenden humanitären Katastrophe zu kooperieren.

     5. Kein "Staatsnotstand"

Die Prinzipien, auf die sich am 6. Mai 1999 die sogenannte G-8 verständigt hat – die
sogenannte G-8 besteht aus der G-7, d.h. Kanada, Frankreich, Deutschland, Italien, Japan,
Vereinigtes Königreich und Vereinigte Staaten und, als Nummer 8, Rußland – anerkennen
das Erfordernis eines Abkommens mit der Bundesrepublik Jugoslawien, d.h. von deren
Zustimmung als souveräner Staat.

Die "Erklärung zum Kosovo", die die am Treffen des Nordatlantikrates in Washington D.C.
am 23. und 24. April 1999 teilnehmenden Staatsoberhäupter und Regierungschefs abgegeben
haben, erklärt, daß die Militäraktion der NATO gegen die Bundesrepublik Jugoslawien die
politischen Ziele der internationalen Gemeinschaft unterstützt, die in jüngsten Stellungnahmen
des Generalsekretärs der Vereinten Nationen und der Europäischen Union bekräftigt worden
sind: "ein friedliches, multiethnisches und demokratisches Kosovo, in dem alle Menschen in
Sicherheit leben und gleichermaßen die weltweit geltenden Menschenrechte und Freiheiten
genießen können".

Weder die Europäische Union noch der Generalsekretär der Vereinten Nationen besitzen
jedoch die Befugnis, die NATO-Mitglieder zu ermächtigen, die Unterstützung der
Bundesrepublik Jugoslawien für die vorstehenden Ziele durch militärisches Handeln zu
erzwingen, und dies im Namen der internationalen Gemeinschaft. Noch viel weniger dürfen
die NATO-Mitglieder Bedingungen diktieren, über die es überhaupt keinen Kompromiß
geben kann.

Artikel 53 der Charta der Vereinten Nationen zufolge "dürfen keine Zwangsmaßnahmen auf
Grund regionaler Abkommen oder durch regionale Organe ohne Ermächtigung durch den
Sicherheitsrat ergriffen werden". Der Kommentar zu diesem Artikel in The Charter of the
United Nations, A Commentary (der bereits erwähnt wurde) (Bruno Simma [ed.], OUP
1994, p. 735) bemerkt, daß von der Annahme auszugehen ist, daß der Sicherheitsrat die
Grenzen der Befugnisse einer Regionalorganisation im Vorfeld seiner Ermächtigung geprüft
hat und daß daher die Tätigkeit des Regionalorgans unter der Ermächtigung des
Sicherheitsrates nicht ultra vires [in Überschreitung seiner Befugnisse – D. Red.] erfolgt. Im
gegenwärtigen Fall jedoch fehlt eine solche Prüfung und Ermächtigung durch den
Sicherheitsrat. Indem sie die Luftangriffe begann, handelte die NATO in der Tat ultra vires.

Die NATO fällt unter die Kategorie der herkömmlichen internationalen Organisationen,
welche "im wesentlichen auf intergouvernementaler Zusammenarbeit von Staaten basieren, die
die Kontrolle über den Entscheidungsprozeß und die Finanzierung der Organisation behalten"
(Peter Malanczuk, Akehurst’s Modern Introduction to International Law, 7th revised ed.
p.95).

Es spricht für sich, daß der Status der NATO-Streitkräfte auf einer Übereinkunft zwischen
den Vertragsparteien des Nordatlantikpaktes und nicht auf einem Abkommen zwischen der
NATO und ihren Mitgliedern beruht. Die NATO hat mit anderen Worten offenkundig keine
eigenständigen Machtbefugnisse [no implied powers].

Der Washingtoner Vertrag gibt den NATO-Mitgliedsstaaten kein Recht zur humanitären
Intervention im Kosovo unter dem Vorwand, in einem Notstand zu handeln. Der bereits
erwähnte ILC-Entwurf über die Staatsverantwortlichkeit stellt unzweideutig fest, daß kein
Staat sich auf einen Notstand berufen kann, um einen Unrechtsvorwurf auszuschließen, es sei
denn

(a) diese Handlung stellte das einzige Mittel dar, ein wesentliches Interesse dieses Staates
gegen eine schweres und unmittelbar drohendes Übel zu sichern; und

(b) die Handlung stellte keine ernste Beeinträchtigung eines wesentlichen Interesses
desjenigen Staates dar, demgegenüber die Verpflichtung bestand.

Darüber hinaus kann kein Staat sich auf einen Notstand berufen als Grund für den Ausschluß
der Unrechtmäßigkeit, wenn, unter anderem, die internationale Verpflichtung, mit welcher die
Handlung des Staates nicht übereinstimmt, aus einer zwingenden Norm des Völkerrechts
erwächst oder wenn der fragliche Staat zum Eintreten des Notstandes beigetragen hat.
(International Legal Materials [1998], pp. 451-452; Th. Meron, Internal Strife: Applicable
Norms and a Proposed Instrument, in Astrid Delissen and Gerard J. Tanja, Humanitarian
Law of Armed Conflict: Challenges Ahead – Essays in Honour of Frits Kalshoven,
Martinus Nijhoff Publishers, 1991)

Die NATO-Mitglieder haben zu dem Notstand durch ihre illegale und verfrühte Androhung
der Luftangriffe selbst beigetragen. Eine analoge Anwendung der Artikel des Entwurfs über
Staatsverantwortung auf das Verhältnis zwischen der Bundesrepublik Jugoslawien, Serbien
und Kosovo impliziert, daß Kosovo die Bedingungen des Artikels 33 nicht erfüllt hat, da die
UCK zum Eintreten des Notstandes beigetragen hat.

Ebensowenig erfüllen die NATO-Luftangriffe das Kriterium des Artikels 33. Die
Bombenangriffe waren mit Sicherheit nicht die einzigen Mittel. Einigen NATO-Staaten stand
eine Anzahl friedlicher Mittel für die Beilegung von Streitigkeiten zur Verfügung. Die
Bombenangriffe beeinträchtigen ein wesentliches Interesse der Bundesrepublik Jugoslawien.
Des weiteren erwächst das internationale Verbot der Gewaltanwendung aus einer zwingenden
Norm des Völkerrechts. Darüber hinaus stellt die Androhung oder Anwendung von Gewalt
eine verbotene Gegenmaßnahme dar (Art. 50, International Legal Materials [1998], pp.
457-458).

Man kann auch den berühmten Fall Caroline aus dem 19. Jahrhundert heranziehen, der zu
der Regel des Völkergewohnheitsrechts führte, daß die Doktrin der Selbstverteidigung auf
Gefahren begrenzt ist, die "unmittelbar bevorstehend und überwältigend sind und keine Wahl
der Mittel und keine Zeit zur Beratung lassen." ( Werner Meng, "The Caroline", in R.
Bernhardt, Encyclopedia of Public International Law, volume one [1992], p. 538).

Die NATO-Staaten können nicht argumentieren, daß ein Streitfall über die Anwendung von
Gewalt ein politischer Streit sei und daß der Gerichtshof keine politischen Streitfälle
behandeln sollte. Der Gerichtshof hat dieses Argument, meiner bescheidenen Meinung nach
völlig zu Recht, im Fall Vereinigte Staaten/Iran zurückgewiesen (I.C.J. Reports 1980, p.
19).

Im vorliegenden Fall können und dürfen die NATO-Mitglieder sich nicht hinter den
Sicherheitsrat flüchten. Es spricht für sich, daß die jüngsten G-8-Prinzipien die Zustimmung
des Sicherheitsrates erfordern.

In summa, Herr Präsident, haben die betroffenen Staaten die zwingende Norm (jus cogens)
des Verbots der Gewaltanwendung verletzt, indem sie sich an dem Luftbombardement der
Bundesrepublik Jugoslawien beteiligten, um diesen Staat zu zwingen, das Vorläufige
Abkommen zu unterzeichnen.

© 1999 Blätter für deutsche und internationale Politik

 
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