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ATTACke auf die Finanzmärkte. Aber wie?
ATTAC-Aktivistin in Genua
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Moderne Zeiten - Sand ins Getriebe der Globalisierungsmaschine
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Eine andere Welt ist möglich - oder doch nicht?

Vorwärts zur ATTACke!? - Drei Sichtweisen

Spätestens seit den Ereignissen in Genua und den anschließenden Umarmungsversuchen seitens der Politik haben die fünf Buchstaben ATTAC ein großes Maß an Aufmerksamkeit erfahren. Doch was verbirgt sich hinter diesem kämpferischen Namen? Vor gut einem Monat fand in Berlin ein Kongress der internationalen ATTAC-Bewegung statt. Wir geben hier einen persönlichen Erlebnisbericht, eine kritische Anmerkung zum Kongress und ATTAC als Organisation und eine interessante ATTAC -Konzeption von Peter Wahl. Drei Sichten, die sich überschneiden aber auch gegenüberstehen.

Vom 19. bis zum 21.10.01 fand an der TU-Berlin ein Kongress von ATTAC Deutschland mit dem Titel „Eine andere Welt ist möglich“ statt. Mit 2500 TeilnehmerInnen wurden die Erwartungen der VeranstalterInnen weit übertroffen- man erzählte sich in den Gängen, dass die Idee des Kongresses von Leuten von ATTAC Berlin bei einem WG-Gespräch ausgesponnen wurde, man rechnete ursprünglich mit 100 oder 200 Interessierten. Drei Tage lang wurde in Form von Podiumsdiskussionen, Plena und Workshops über die mannigfaltigen Facetten der neoliberalen Globalisierung und ihrer gesellschaftlichen Auswirkungen debattiert. Zu den Plena und Podiumsdiskussionen waren von den intellektuellen Köpfe der globalisierungskritischen Bewegung wie Bernard Cassen und Susan George- beide von ATTAC Frankreich, über NGO-Vertreter wie Barbara Unmüssig von WEED (World, Economy, Ecology & Development) oder Ingeborg Wick von Südwind und Friedensbewegten wie Horst-Eberhardt Richter bis hin zu (ehemaligen) Politikfunktionären wie Oskar Lafontaine geladen. In den am Samstag ca. 80 angebotenen Workshops wurde ein breites Spektrum an Themen vertieft, unter ihnen die klassischen Fragen etwa zur Entschuldung der Dritten Welt, der WTO oder zur Agenda 21. Daneben wurden auch sehr spezielle Workshops z.B. zur Funktionsweise der Tobin Tax, der ökonomischen Krise in Argentinien und zu den vielgestaltigen sozialen Bewegungen selbst durchgeführt. Aber es waren nicht die Themen, die für mich das eigentlich Beeindruckende und Mitreißende des Kongresses ausmachten. Auch auf anderen Veranstaltungen wie etwa dem jährlich stattfindenden Bundeskongress entwicklungspolitischer Aktionsgruppen BUKO werden diese Themenbereiche diskutiert. Wirklich außergewöhnlich waren das unglaublich bunte Publikum sowie die Aufbruchsstimmung, die vorherrschte. In den vollkommen überfüllten Hörsälen sitzen Punker neben Frackträgern, Schüler neben Großeltern. Aus vielen verschiedenen Bewegungen sind Menschen zusammengekommen: Gewerkschaftler, ein breites Feld von NGO-Vertretern , Schüler aus Berlin, die Tage zuvor noch einen Streik gegen den Krieg organisiert hatten, Studenten, Leute aus der Friedensbewegung, kirchliche Gruppen, Umwelt- und Naturschützer ... In den Hörsälen herrscht eine gespannte Atmosphäre, viele wache Augen, offene, fast gierige Ohren. Susan George hält eine brennende Rede, Salven von Applaus, eine andere Welt ist möglich so der Tenor. Am Ende steht der gesamte Saal geschlossen auf und applaudiert minutenlang. Tränen laufen über ihr Gesicht. Ich habe den Eindruck, dass die meisten Menschen auf dem Kongress sich darin einig sind, dass es an der Zeit ist, eine starke Gegenbewegung zur Sachzwanglogik der Politik und ihrer an Wirtschaftsinteressen angelehnten neoliberalen Ausgestaltung aufzubauen. Und wenn ich mal meine Gedanken etwas spinnen lasse, mir eine Zukunftsvision ausmale, dann kann ich mir vorstellen, dass mit der ATTAC-Bewegung etwas wirklich qualitativ Neues in der Geschichte entstehen könnte. Eine breite soziale Bewegung, die den nationalen Rahmen verlässt, wie es ja andere gesellschaftliche Bereiche wie etwa die Wirtschaft schon lange getan haben. Eine Bewegung, die nicht ihre Spezialisierung hat wie die Umwelt- Friedens- Menschenrechts- usw. Bewegungen- nein, eine Bewegung, die diese Themen miteinander vereint- schließlich hängen sie ja auch unweigerlich miteinander zusammen. Eine Bewegung, die nicht von oben kommt, politisch wurde ja mit Gründung der UNO unter den schrecklichen Eindrücken des Zweiten Weltkrieges Ähnliches schon einmal versucht, nein, eine Bewegung ganz normaler Leute. In ATTAC können die direkten Verlierer der neoliberalen Globalisierung, diejenigen, die mit den Verlierern Empathie empfinden und moralische Werte verteidigen, und diejenigen, die verstehen, dass wir alle Verlierer sein werden, gemeinsam an einem Strang ziehen. Wie es ein Kongressteilnehmer treffend sagte: Würde es ATTAC noch nicht geben, wäre es dringend an der Zeit, es zu gründen. Gerade die Tatsache, dass die ATTAC sich nicht wie NGOs oder Gewerkschaften oder Marxisten einfach auf einen gemeinsamen Nenner bringen läßt, sehe ich als eine große Stärke, aber auch als eine große Herausforderung und zugleich als eine Gefahr an. Stärke deshalb, da es gelingen könnte Kräfte zu bündeln, anstatt sie in (selbstverliebten) linken Grabenkämpfen zu vergeuden. Eine Herausforderung deshalb, da es gewiss Grenzen der Toleranz gegenüber anderen Positionen gibt, ja geben muss. Und eine Gefahr sehe ich schliesslich darin, dass ein zu einfacher Weg eingeschlagen wird, alles zum Einheitsbrei verrührt wird und keine theoretischen Analysen und Debatten mehr erfolgen.

Michael Scholze

 

Ein anderer Kapitalismus ist möglich“ - einige kritischen Anmerkungen zu ATTAC.

Die immer wieder als Stärke verstandene Breite (im Sinne thematischer und inhaltlicher Vielfalt) der globalisierungskritischen „Bewegung“ wird spätestens dann zur Schwäche, wenn sich Forderungen nicht mehr nur ergänzen, sondern sich konträr gegenüber stehen. Untersucht mensch die Teilbereichsströmungen auf ihre Motivationen und Zielstellungen, wird deutlich, dass wir uns zunächst miteinander auseinandersetzen müssen, bevor wir zum nächsten Sprung im Gipfelhopping ansetzen. Ziemlich deutlich lassen sich drei Strömungen innerhalb der „Bewegung“ herauskristallisieren. Am deutlichsten wahrgenommen wird die Strömung der NGOs (Nicht-Regierungsorganisationen), insbesondere ATTAC. Eine zweite Strömung stellen die verbliebenen Reste der traditionellen Linken dar, also trotzkistische, marxistische oder leninistische Gruppierungen. In der dritten Strömung lassen sich all die Gruppierungen oder Einzelmenschen zusammenfassen, die für sich die Bezeichnung autonom oder anarchistisch gelten lassen würden. Die weiteren Betrachtungen sollen sich auf ATTAC konzentrieren. Die Kritik soll als solidarisch verstanden werden und der inhaltlichen Auseinandersetzung dienen. Das NGO-Spektrum wendet sich mit seiner Kritik gegen die „entfesselte“ Globalisierung und fordert die Wiederbelebung des starken Sozialstaates. Hieran ist nicht nur zu bemängeln, dass die Kritik auf halbem Wege stehen bleibt und sich nur auf die sogenannte Globalisierung bezieht – nicht aber auf die ihr zugrunde liegende kapitalistische Gesellschaftsordnung, sondern auch der positive Bezug auf den Nationalstaat. ATTAC Österreich z.B. lässt verlautbaren „Wir sind gegen wirtschaftliche Globalisierung, weil wir nationale Identitäten wahren wollen“. ATTAC propagiert eine demokratische Kontrolle der internationalen Finanzmärkte und glaubt dies durch die Einführung einer sogenannten Tobin-Tax erreichen zu können: die „internationalen spekulativen“ Kapitalflüsse sollen mit 0,1 % besteuert werden. Dazu ist zum einen zu bemerken, dass sich Produktion und Spekulation nicht voneinander trennen lassen, sondern zwei zusammen-gehörende Teile darstellen durch die sich Marktwirtschaft organisiert. Aus einer Besteuerung von Spekulation folgte vielleicht eine stärkere Investition in Produktion, aber logischerweise in eine Produktion, die hohe Gewinne abwirft - das diese Produktion sozial sinnvoll sein könnte, erübrigt sich fast von selbst. Zum anderen eröffnet die Kritik am „spekulativen Finanzkapital“ Raum für antisemitische Ressentiments. Spekulation ist ein Begriff, der häufig mit einem Konstrukt des Judentums einhergeht. In antisemitischen Denkmustern wird die Judenverfolgung u.a. damit zu legitimieren versucht, dass Juden ein Bild des raffenden Geldhändlers, Wucherers etc. zugeschrieben wird (I.n.Ka.K. Hamburg). In Ostdeutschland ist die „Globalisierung“ auch zum Feindbild der NPD avanciert, sie setzt diesen Begriff ausschließlich mit dem „ausländischen“ Kapital gleich. ATTAC vermeidet sehr bewusst die Systemfrage zu stellen: die möglicherweise ehemals kritischen Gruppen wollen auf der einen Seite potentielle BündnispartnerInnen nicht verschrecken und haben auf der anderen Seite im Zuge ihres Etablierungsprozesses den Glauben an die Möglichkeit grundlegender Veränderungen verloren - der Großteil der beteiligten Gruppen hatte einen solchen Glauben jedoch noch nie in ihren Strategien integriert - hier ging es schon immer um Reformpolitik und Beteiligung an der Macht. Abzuwarten bleibt auch, ob wir die 2500 TeilnehmerInnen demnächst auf Brüssels Straßen wiedersehen werden, oder ob sich ihre Globalisierungskritik in der Teilnahme an Workshops erschöpft. Nach den militanten Auseinandersetzungen in Göteborg (die durch polizeiliche Attackierung der reclaim-the-street-Demonstration mit Hundestaffeln ausgelöst wurden) hatte Susan George (ATTAC Frankreich) verlautbart, bei zukünftigen Demonstrationen militant agierende AktivistInnen der Polizei auszuliefern. Der Koordinierungskreis von ATTAC Deutschland hingegen bemühte sich nach den Polizeischüssen von Göteborg um eine differenziertere Sicht: ATTAC lehnt Gewalt als Mittel seiner Politik ab, distanziert sich aber nicht von denen, die das anders sehen. Dieses Statement wird aber, wenn es darauf ankommt, nicht nach außen transportiert. Peter Wahl z.B. meinte in einem taz-Kommentar, in der Militanz die Scheidelinie zwischen der „großen Mehrzahl derjenigen, die eine andere Form des Internationalismus wollen als den der neoliberalen Globalisierung“ und „jenen Protestierern, die Gewalt oder eine staatliche Gewalt provozierende Militanz in ihr politisches Kalkül einbeziehen“ gefunden zu haben. Susan George und Peter Wahl kann nur dringend Nachhilfeunterricht in Sachen Militanz empfohlen werden. Dafür empfiehlt sich z.B. Werner Rätz (ATTAC Deutschland), der in jungle world behauptet „Gewalt ist Teil der Gesellschaft und Ausdruck jeder sozialen Bewegung.“ Er schreibt weiterhin: „Nicht die Frage der Mittel entscheidet, wer die PartnerInnen sind, sondern die Frage, wer und was bekämpft wird. Da sind bei vielen »gewaltfreien« NGO durchaus Zweifel angebracht. Jede Thematisierung der Gewaltfrage in abstrakter Allgemeinheit kann also nur damit beantwortet werden, dass Militante wie Militanz zu uns gehören. Die Frage nach der prinzipiellen Berechtigung der Gewalt stellt sich nicht. Das wäre so sinnlos wie die Frage nach der Berechtigung des Wetters; sie ist einfach da, solange die Voraussetzungen gegeben sind.[...] Aber reagierten gar keine Individuen mehr gewaltsam auf diese gewalttätige Gesellschaft, könnte man nur noch ihren endgültigen sozialen und moralischen Tod konstatieren. Alle, die sich gegen die Verhältnisse wehren, unternehmen damit etwas Richtiges, von dem sich niemand distanzieren kann, der tatsächlich die herrschenden Verhältnisse in all ihrer mörderischen Wirklichkeit verändern will.[...]“ Für mein Empfinden bewegt sich ATTAC auf sozialdemokratischem Niveau (mit konservativ-nationalistischen Nuancen: auf dem ATTAC-Kongreß in Berlin äußerte sich ein ATTAC-Mitglied aus Nürnberg zu den Protesten während des CSU-Parteitages der dort eine Woche zuvor stattgefunden hatte und begründete diese mit dem beabsichtigten Besuch Berlusconis, dabei räumte er großzügig ein, dass man gegen die CSU natürlich nichts einzuwenden habe, denn auch CSU-Mitglieder wären bei ATTAC Nürnberg vertreten...) und wird in die Fußstapfen von B90/Die Grünen treten und vielleicht neben der Schillpartei die deutsche Parteienlandschaft bereichern. Einen politischen Ansatz mit emanzipatorischem Charakter, der es auf die Überwindung der herrschenden kapitalistischen, rassistischen und patriarchalen Verhältnisse abgesehen hat, sucht mensch im heterogen Meinungs-Markt der Möglichkeiten von ATTAC vergeblich. Ins Schwarze getroffen hätte vermutlich eher der Kongresstitel: „Ein anderer Kapitalismus ist möglich“ (Herr Gipfelmoser, siehe www.gipfelsturm.net).

Quellen: Reader der I.n.Ka.K. Hamburg – Institut für nachhaltige Kapitalismuskritik, Jungle World 5.09.01 S. 5

Helga Schröder

 

Eine neue, erstmals wirklich internationale Protestgeneration heizt Politikern und Konzernchefs ein - und zwar zu Recht.“ Nicht dass der SPIEGEL (Nr. 30/2001) unbedingt die geeignetste Instanz zur Beurteilung sozialer Bewegung wäre, aber hier urteilt er durchaus einmal zutreffend. Die neue Qualität kapitalistischer Entwicklung, jene Art von globalisiertem Manchesterkapitalismus, die sich hinter der Rede von der Globalisierung verbirgt, hat jetzt ihre Gegenbewegung hervorgebracht, auch wenn sich diese noch in der Entstehungs- und Formierungsphase befindet. Einer der profiliertesten Akteure in diesem Formierungsprozess ist ATTAC. Im folgenden, gekürzten Beitrag stellt Peter Wahl, geschäftsführender Vorstand der Bonner Nichtregierungsorganisation WEED und Mitglied im Koordinierungskreis von ATTAC-Deutschland, den politischen Ansatz, die Position von ATTAC innerhalb der Anti-Globalisierungsbewegung vor. Den gesamten Artikel findet Ihr unter: www.attac-netzwerk.de/ archiv/ 0109_pewl_ila.html Umarmungen und Abgrenzungen Der Durchbruch von ATTAC in den letzten Monaten musste dazu führen, dass bei anderen politischen Kräften bestimmte Begehrlichkeiten gegenüber ATTAC entstehen. Vereinnahmen und Instrumentalisieren gehörten nun einmal zum Aufstieg von sozialen Bewegungen. So häufen sich die einschlägigen Einladungen zu Gesprächen, Podiumsdiskussionen, Parteiversammlungen etc. Inzwischen hat die Vorsitzende der Grünen im Widerspruch zur Bundesregierung sogar vorgeschlagen, die Tobin Tax in das neue Programm ihrer Partei aufzunehmen. Vergleichbare Vorstöße kommen von den beiden anderen sozialdemokratischen Parteien im Bundestag. Selbstverständlich gibt es keinen Grund, das Gespräch mit Parteien und Repräsentanten staatlicher Institutionen zu verweigern. Solange man sich seine Positionen und die eigenständige Aktionsfähigkeit nicht abhandeln lässt und den Dialog als Terrain der Auseinandersetzung um diskursive Hegemonie begreift, kann man dabei durchaus auch etwas gewinnen. Auch wenn der Staat als Verdichtung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse keine neutrale Instanz ist, so gilt auch und gerade deshalb: „Eine emanzipatorische Strategie wird auch kooperative Politikinstrumente nutzen, wenn eine sorgfältige Prüfung ergeben hat, dass sich darüber bestimmte Ziele erreichen lassen.“ (Ulrich Brand) Im umgekehrten Verhältnis zu den Umarmungsversuchen stehen Anstrengungen von anderer Seite, sich von ATTAC zu distanzieren. Typisch dafür ist ein Positionspapier des „Arbeitsschwerpunktes Weltwirtschaft“ des BUKO (ASWW) zu Genua. Dort wird ATTAC pauschal mit dem Etikett „internationale außerparlamentarische Sozialdemokratie“ versehen und behauptet, das ATTAC-Programm repräsentiere „das Programm des ehemaligen Finanzministers Lafontaine.“ Dem gegenüber käme es darauf an, das „Verhältnis zum Staat grundlegend“ zu überdenken und ein „reduziertes Kapitalismusverständnis“ zu überwinden. Natürlich ist nichts gegen ein realistisches Verhältnis zum Staat und ein elaboriertes Kapitalismusverständnis einzuwenden. Nur, eine eingriffsfähige Strategie, mit der etwas verändert werden könnte, ist das nicht, wie nicht zuletzt die Erfahrungen des BUKO zeigen, der genau dies seit langem praktiziert - freilich ohne damit etwas politisch zu bewegen. Die Erkenntnis der gesellschaftlichen Zusammenhänge setzt sich nicht damit durch, dass man sie immer wieder verkündet. Wenn man die diskursive Hegemonie der herrschenden Verhältnisse brechen will, bedarf es einer differenzierten Strategie und Taktik auf dem Terrain der Diskurse selbst. Und dann muss man sich auf dieses Terrain begeben. Allgemeine Staats- und Kapitalismuskritik, von oben eingeflogen, greift nicht, selbst wenn sie „wahr“ ist. Denn: Wie kommt ein Kollektiv, eine Bewegung, eine Gesellschaft zum Denken? Indem Erfahrungsräume erschlossen und Lernprozesse in der politischen Praxis organisiert werden. Genau das tut ATTAC. Daraus wird sich dann auch ein adäquates Staats- und Kapitalismusverständnis ergeben. Das war übrigens auch historisch immer so. Wenn die Franzosen 1789 sich erst ein theoretisch sauberes Staats- und Kapitalismusverständnis hätten erarbeiten wollen, würde die Welt noch heute auf die Erstürmung der Bastille warten. Die Teilnahme an den Demonstrationen in Genua hat an zwei Tagen mehr Staatsverständnis produziert als die gesammelten Werke der kritischen Staatstheoretiker zusammengenommen. Bekanntlich wird die Theorie erst dann zur materiellen Gewalt, wenn sie die Massen erfasst. Aber genau dieses „wenn“ ist der Knackpunkt: Die Durchsetzung der theoretischen Wahrheiten ist ein gesellschaftlicher Prozess, bei dem man Anfang und Ende nicht in eins setzen darf. Eine ähnlich simple Konzeption von Wahrheitspolitik liegt der Etikettierung der Tobin Tax als „technokratisch“ zu Grunde. Primär kommt es nicht darauf an, ob diese Steuer technisch machbar ist und welche ökonomischen Auswirkungen sie im Detail hat, auch wenn diese Aspekte in der Auseinandersetzung mit der Gegenseite Einfluss auf die Durchschlagskraft des Gegendiskurses von ATTAC haben. Zweifellos würde die Implementierung der Steuer die Finanzmärkte und damit den Kapitalismus insgesamt stabilisieren. Entscheidend ist aber, dass der Tobin Tax-Diskurs eine politische Mobilisierungswirkung auch bei Leuten, die in anderen Fragen der Hegemonie der Gegenseite unterliegen, hat. Damit trägt er zur Verschiebung der diskursiven Kräfteverhältnisse bei. Er hat diese Wirkung u.a., weil er abstrakte Zusammenhänge wie die Macht des Finanzkapitals konkret erfassbar macht, einen konkreten Gegner benennt, die Gegenseite tendenziell spalten kann und einen sehr fassbaren Nutzen hätte, nämlich dreistellige Milliardenbeträge für Umwelt und Entwicklung. Und all dies ohne dass man das Kapital gelesen haben muss! Man kann darüber streiten, ob es nicht andere, bessere Zuspitzungen gibt. Es kann auch sein, dass in einem Jahr ein anderes Thema in den Vordergrund geschoben wird, sei es, weil die Tobin Tax implementiert wurde, sei es, weil ein anderes Thema ein größeres Potential zur Hegemoniefähigkeit hat. Was immer konkret bei solchen Überlegungen herauskommt, eines ist sicher: Zuspitzungen in der Qualität von „Weg mit dem Kapitalismus“ oder auch vergleichsweise bescheidenere Forderungen wie die nach der Abschaffung des IWF haben dieses Potential nicht. Sie befriedigen das Bedürfnis nach Identitätsstiftung, zur Veränderung der Verhältnisse tragen sie nicht bei. Das eigentlich Spannende ist die Diskussion darüber, wie konkret die diskursive Hegemonie emanzipatorischer Politik hergestellt werden kann. Der Arbeitsschwerpunkt Weltwirtschaft (ASWW) des BUKO ist dazu herzlich eingeladen, gerne innerhalb von ATTAC, aber außerhalb isses auch okay. Das, was sich an Bewegung regt, ist zu wichtig und wertvoll, als dass man es durch Zirkelwesen as usual an sich vorbei ziehen lassen sollte.

Peter Wahl

Der gesamte Beitrag von Peter Wahl erschien im ila-Dossier Finanzpolitik „Geld. ¿Gerechtigkeit? Geld.“ Das Dossier ist für 3,- DM bei der Informationsstelle Lateinamerika (ila, Heerstraße 205, 53113 Bonn, Tel. 0228/65 86 13, e-mail: ila@ila-bonn.de, www.ila-web.de) erhältlich Der vollständige Artikel von Peter Wahl ist im internet auch hier nachzulesen.


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