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Likedeeler 16, Frühjahr 2005

Kleine Brötchen!
Stulle
Vielleicht ein Brief an Judith H.  
   
Mein Bedürfnis hatte sich angekündigt. Ein Wringen vom Bauch her. Hunger ist ein seltenes Gefühl. Nein. Irrtum. Appetit bewog mich einzutreten. Den Menschen nachzutun, die wie ich etwas an sich zu stillen hatten. Und siehe: eine Back-Fabrik! Hell und ein Raum mit Fliesen vor Ablagen. Ich will hier gar nicht lange drumherum reden. Zugegeben, mein Plan umfasste den Erwerb mehrer Backprodukte. Aber dann beging ich einen Fehler. Vielleicht auch mehrere, würdest Du liebe Judith, vielleicht hinzufügen, aber es blieb der Fakt, dass ich das abverlangte Prozedere offenbar nicht beherrschte. Da wollte ich so mir nichts dir nichts auf meine Ziele zugreifen, sie eintüten, zahlen und den Ort stracks verlassen, als man mich, der auffällig geworden, dann doch für eine Art deutschen Tumult gesorgt hatte, anhielt und mir mitteilte, dass es so ja nicht ginge. So also nicht? Gut! Wie aber dann? Eine Verkaufsmenschin, deren Frohnatur zumindest auf hiesigem Parkett einen Sinn fürs Wochenende gefunden zu haben schien, nahm mich würdevoll bei Seite. Sie roch entsprechend frisch, als sie mir erklärte wie der Ablauf vorschriftsmässig zu erfolgen hätte: zuerst zum Stapel mit Tabletts gehen, ein Tablett nehmen, weiter zum Stapel mit Papier drehen, ein Blatt sauberes Papier auf das Tablett legen, dass so komplettiert und nun bereit wäre all die schimmernden Kostbarkeiten, zu deren Erwerb ich mich hier besprechen liess; aufzunehmen. Alsdann hätte ich mich einzureihen, in einer dieser gestreckten Menschenmengen, deren Einzelteile mir ungläubig, mürrisch oder belustigt in den Rücken starrten. Mir war das alles sehr sehr unangenehm. Mein individuelles Ich scheute und beharrte auf Unkompatibilität. Ich hatte schon immer alles gegen jede Zeremonie, Judith! So stand ich, die Flucht erwägend, für Momente wortlos neben der Freundschaft dieser Dienstperson. Vielleicht sollte ich behaupten sie hätte mir gefallen. Vielleicht nur der Spannung wegen, Judith? Aber mir ist es zuwider permanent Kreaturen jeglicher Art zu erotisieren. Wenn du so willst, sage ich dir ausdrücklich, dass ich sie mir ganz bewusst nicht nackt vorgestellt habe! Ich bestehe darauf! Ich hatte mit meinem Denken zu tun. Gab es Handlungs-Alternativen? Mein endlicher Entschluss, ich fügte mich den Ratschlägen der Haubenträgerin, kam mir wie Verrat vor. Vielleicht, liebe Judith, bin ich ja irgendwie zwanghaft. Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Mein Appetit stand gegen meine eher unkonventionelle Weltsicht. Ich wollte eine Tüte mit 4 Brötchen, und hatte mich vorher sorgsam einzureihen, wie in einer Prozession die Front einer Backelite abzusalutieren, um endlich, vielleicht nachdem die Lebewesen vor mir sich zuende entschieden hatten, bei meinen Wunsch-Brötchen anzulangen, mir eine Zange zu greifen und die Goldleibchen wie Sondermüll auf das weisse Papier auf meinem Plastik-Tablett zu legen. Eine Peinlichkeit! Aber was hätte ich tun sollen? Mit diesem sog. kleinen Hunger im Leib blieb keine Wahl. Die Sachzwänge einer nur zu fatalen Realität! Du weisst schon!
Danach war ich geschafft. Ich bedauerte kurz den Verlust eines weiteren Teils des authentischen Ich-Ich und sprach folgenderart zu mir: Hungriger, wenn du schon bei so nebensächlichen Dingen wie dem Brötchenerwerb einknickst, dann ziehst du auch in jeden Krieg! Um eines niederen persönlichen Gewinnes halber, akzeptierst du eine Struktur deren Zweck der Streichrichtung deines Charakters frontal entgegensteht! Du Opportunist. So sprach ich mir. Oder, liebe Judith sehe ich das vielleicht doch zu eng? Es war immerhin auch eine Erfahrung? Ja. Natürlich. Na gut. Weiter lernen. Immer so weiter, bis alle guten Gründe so schwer auf meinen Sinnen liegen, dass meine Worte sich nur noch flüsternd von der Zunge wagen. Einfach etwas mehr Gelassenheit. Ach ja Judith, vielleicht hast du ja recht! Was ist schon dabei. Braucht das Menschenleben nicht Regeln, wie dass jeder Brieftaube auch?! Es gibt welche die Behaupten, das nur durch das Befolgen von Regeln ein Mensch seinen Wert erhält.
So dachte ich mich mitten durch rostige Gedanken und sah mich bereits im Graben für Deutschland und seine Brötchen, andernorts böse böse Kinder töten, da hatte mich die Warteschlange plötzlich an der Kasse abgesetzt. Der Kloss in meinem Hals musste zu sehen gewesen sein. Aber noch war ich nicht am Ende meines, wie es so trefflich heisst, Weges. An der Kasse wurde ein Preis genannt. Ich zahlte. Das junge Menschenmännchen, der hier Dienst versah, trug Uniform. Aha. In der Falle, dachte ich. Vielleicht schaffe ich es ja noch hinaus ohne etwas unterschreiben zu müssen?
Dann sprach es mich an. Judith, vielleicht stellst du dir das mal vor. Es sagte, und das ganz harmlos: "Na, so schwer wars doch gar nicht!"
Als mich die Worte dessen trafen, geriet ich vollends in Panik. Was wollten all diese Leute hier von mir? Ich hatte doch nichts als etwas Hunger gehabt und fand mich nun im Sumpf eines mir unbekannten guten Willens. "So schwer war es doch gar nicht!?" Wie konnte diese Entität in Verkaufsfunktion vorgeben zu wissen wie schwer oder leicht dieses jenes für mich zu sein pflegt. Woher kam diese unverblümte Grausamkeit? Nach der Erniedrigung, nun also auch noch Hohn? Das war zuviel. Für mich jedenfalls. Diese Zustände sind übel, Judith. Vielleicht verstehst du was ich meine. Erbärmlich und verwirrt, mit dem Lob der Gutmütigen, verliess ich so schnell es ging den Geschäftsraum. Meiner Identität beraubt, gekauft um den Lohn vierer Brötchen, die übrigens ausgesprochen lecker schmeckten; und gar nicht teuer; wusste ich nicht mehr wohin. Judith, wie ein Dieb schlang ich die gebackenen Schandmale im Laufen in mich hinein. Ach, wäre ich doch geplatzt und an meiner Feigheit zu Grunde gegangen!
Vielleicht, liebe Judith, hätte das etwas geändert. Vielleicht aber auch nicht...
Hagen Kocksch